Interessante, auf diese Seite passende Infos bitte per eMail. Danke!
zurück...

1.8.2003
Außer Kontrolle
Fünf Jahre Rechtschreibreform in den Schulen: Sie hat weder das Heil noch die Apokalypse gebracht

von Matthias Heine

Das Schlimmste an der Rechtschreibreform, die heute vor fünf Jahren die Schulen und vor vier Jahren die Zeitungen erreichte, ist der Stil der Debatte um sie. Doch zugleich ist diese Diskussion das Kostbarste, das die Reform gebracht hat, denn sie hat die Rechtschreibung wieder zum Gegenstand persönlichen Nachdenkens gemacht. Die Entscheidung für eine der zahlreichen "Hausrechtschreibungen", wie sie Verlage, Zeitungen und Individuen pflegen, setzt eine Reflektion über das Für und Wider aller orthographischen Problemfälle voraus - der alten wie der neuen. Wie man schreibt, ist zur Frage des Gewissens und des Stils geworden.

Das gilt natürlich nur für die Gebildeten. Die überwältigende Mehrheit aus Irgendwie-Schreibern trägt zur Debatte nichts bei, denn es ist völlig egal, ob sie nun die alte oder die neue Schreibung nicht beherrscht.

Mit dem Erwachen der Sprachbewussten aus dem orthographischen Dämmer unreflektierter Dudenhörigkeit wiederholt sich ein ewiges geschichtliches Muster: Auch die Konservativen sind immer Kinder der Revolution. Der Glaube an die alte Rechtschreibung bekam einen gegenreformatorischen Impuls. Wahrscheinlich beherrschen die meisten Altschreiber ihre Orthographie heute besser als vor 1998, denn sie haben sich des scheinbar Selbstverständlichen noch einmal vergewissern müssen.

Umso schlimmer, dass die ganze Debatte längst das Erscheinungsbild eines absurden Parteienstreits angenommen hat. Das liegt vor allem an ihren sichtbaren Protagonisten: Auf beiden Seiten kämpfen akademische und politische Warlords um ihre Herrschaftsbereiche. Ihre Gefolgsleute rekrutieren sie aus dem Heer der üblichen Verdächtigen: Verfasser kilometerlanger Leserbriefe, Gründer mikroskopischer Bürgerinitiativen, Verschwörungstheoretiker, die mit Internet-Seiten aufklären. Und zum Schutzpatron der alten Rechtschreibung hat sich ausgerechnet das wandelnde Bildungsnotstandsgebiet Guido Westerwelle erklärt.

Das Thema zieht Käuze an, weil die Rechtschreibung mehr Emotionen erregt als andere Aspekte des Sprachlebens. Mit vergleichbarem Furor werden höchstens noch die zyklischen Fremdwortdebatten geführt. Möglicherweise hat beides mit der Rolle dieser Themen bei der Schaffung nationaler Identität und deutscher Einheit zu tun. Das massenhafte Aussterben von Wörtern und das Plattmachen von Grammatiklandschaften regen die Leute dagegen längst nicht so sehr auf wie vergleichbare Phänomene in der Natur. Auch eine Änderung der Verkehrsregeln, bei denen es doch viel eher um Leben und Tod geht, würde kaum so wütend diskutiert werden.

Das Niveau der Diskussion sinkt mit jeder Attacke und Gegenattacke. Je mehr die Reformer allen berechtigten Einwänden zum Trotz auf ihrer Regelungsgewalt beharren, desto kurioser sind die geistigen Wunderwaffen, welche die Rebellen ins Feld führen. Sie haben ja so Recht. Aber ewiges Rechthaben macht bekanntlich schrullig. Ewiges Rechtschreiben auch. So argumentieren sie siegesgewiss, dass sogar bei den Lehrern die überwältigende Mehrheit bis heute nicht kapiert habe, wann man ss und wann ß schreibe. Doch wenn viele die wohl einfachste Regel der neuen Rechtschreibung immer noch nicht kapieren, beweist das doch eher das allgemeine Absterben des prosodischen Gefühls, als dass es ein Argument gegen die Reform wäre. Die Leute können offenbar nicht mehr zwischen einem langen und einem kurzen Vokal unterscheiden. Daran sind aber nicht die neuen Regeln schuld.

Außer Kontrolle (2)

Einer der windigsten Versuche, die Reform zu diskreditieren, war der Vorwurf, es habe ähnliche Vorschläge schon zur NS-Zeit gegeben. Als ob die Bundesrepublik sich je gescheut hätte, Einrichtungen und Erfindungen der Nazis zu übernehmen, sofern diese nicht allzu erkennbar mit deren Ideologie verknüpft waren - vom Volkswagen über die Steuerfreiheit von Nacht- und Sonntagsschichten bis zum System der Krankenversicherung. Hitlers Pädagogen haben 1940 auch der Sütterlinschrift und der Frakturschrift den Garaus gemacht. Diese Naziopfer wollte bislang noch keiner rehabilitieren.

Weil sowohl die Pro- als auch die Contra-Haltung oft zur Ideologie erstarrt sind, können sich ihre Rechtgläubigen auch absolut nicht vorstellen, dass man die Mängel und Fehler der Reformschreibung sieht, aber dennoch gelassen bleibt. Die Reform hat kaum Probleme gelöst und viele neue geschaffen, aber sie hat auch nicht den Untergang der deutschen Sprache eingeleitet. Weder die Heilserwartungen der Reformer noch der Apokalyptizismus ihrer Kritiker waren angebracht. Lebendige Sprache hat sich immer der bürokratischen Kontrolle entzogen.

Wenn die meisten Sprachteilnehmer unwillig sind, die neuen Regeln zu erlernen, bedeutet das wenig. Versicherungsbetrug wird auch niemals straffrei, nur weil es jeder tut. Die Tatsache, dass so viele noch an der alten Rechtschreibung festhalten, beweist nur den menschlichen Unwillen, einmal Gelerntes infrage zu stellen. Dass Marcel Reich-Ranicki und Walter Kempowski mit 80 nichts Neues mehr lernen wollen, ist sehr verständlich. Viele sehr alte Leute schreiben bis heute noch Sütterlinschrift.

So wie diese wird vermutlich auch die alte Orthographie verschwinden, spätestens wenn das "FAZ"-Herausgebergremium nur noch aus Leuten besteht, die in der Schule die neuen Regeln gelernt haben. Bis dahin wird auch die Reformschreibung noch manche Modifikationen durchlaufen. Und es werden ungezählte Schreibweisen parallel existieren. So schlimm ist das nicht: Es gab schon einmal Zeiten, in denen sich hier zu Lande jeder für eine eigene Rechtschreibung entscheiden konnte. Im frühen 19. Jahrhundert gab es keine gesetzliche Norm, trotzdem wurde ein schöneres und formenreicheres Deutsch geschrieben als heute.

Die Rolle, die damals die Drucker bei der Herausbildung orthographischer Mindestnormen spielten, hat heute das Internet inne. Ausgerechnet dieses von Sprachwächtern viel geschmähte Medium erweist sich als der große Vereinheitlicher. Wer etwas bei Ebay verkaufen will, muss es richtig schreiben. Wer will, dass seine Schlüsselbegriffe von Suchmaschinen erkannt werden, muss sich für eine geläufige Schreibweise entscheiden.

Noch lange wird der Streit wichtigere Probleme der deutschen Sprache überdecken: Das Schwinden des Flexionsgefühls beispielsweise, dessen auffälligstes Symptom, der Genitiv-Apostroph, bislang allen satirischen und volkspädagogischen Angriffen standhält. Oder die zunehmende Unfähigkeit, hypotaktische Sätze zu bilden und zu verstehen: Schon ein Jahr vor Pisa lag der "Bild"-Zeitung eine Untersuchung vor, wonach immer mehr "Bild"-Leser kaum noch in der Lage seien, einen "Bild"-Artikel zu kapieren. Da dräut der Untergang des Abendlandes - falls er denn dräut -, denn diese Bereiche hängen im Gegensatz zur Rechtschreibung eng mit den kognitiven Fähigkeiten und der sozialen Kompetenz zusammen. Hier lauert hinter der Krise der Sprache tatsächlich die Krise der Zivilisation.


Quelle: Die Welt, 1.8.2003; per Mail geschickt bekommen...

zurück...
Interessante, auf diese Seite passende Infos bitte per eMail. Danke!